Der Maler und Arzt Dr. Dietmar Wappler – ein Grenzgänger zwischen Ost und West
Ein leerer Ledersessel steht im Atelier, darüber hängt dessen ziemlich realistisch gemaltes Abbild: wuchtig und schwarz. Der dunkle Sessel auf der Leinwand (Dietmar Wappler, 1978), war für den Maler mehr als ein bloßes Möbelstück, er stand für die schwere Last und zugleich die Leere, wie sie der Verlust eines Menschen hinterlässt.
Am 24.September jährte sich der Todestag von Dietmar Wappler zum zehnten Mal. Seine Bilder füllen seither Ausstellungen, Schlösser, Kirchen, private Wände und sein ehemaliges Atelier. Dort tauchte beim Sichten seines Nachlasses eine rätselhafte Leinwandrolle auf, die bis dahin rahmenlos und unbeachtet hinter dem Sessel lehnte.
Überraschend sind die bunten Farben und die kubistischen Formen, bei denen er offensichtlich sein großes Vorbild Picasso im Kopf hatte. Man erkennt ein verlorenes Paar, das Tauben füttert, die von Raubvögeln angegriffen werden.
Transport über die Friedensbrücke Bautzen
Die Signatur auf dem Leinwandbild verrät, dass Wappler es mit gerade einmal 20 Jahren gemalt hat, am Anfang seines Medizinstudiums. Das trat er im fernen Heidelberg an, da er im Osten als Großbauernsohn keinen Studienplatz erhielt. Mitten im Kalten Krieg zog es ihn nach dem Studium jedoch wieder zurück in die Oberlausitz, in sein Dorf mit dem heimatlichen Hof. Bei seiner Rückkehr 1967 in die DDR konnte er allerdings nur wenige kleinformatige Werke mitnehmen und jenes farbenfrohe Leinwandgemälde mit den Tauben, das er allerdings aus dem Keilrahmen herauslöste und zusammenrollte, weil es für den Transport zu groß war. Als junger Arzt ging er dann nach Bautzen, wo er seitdem mit seiner Familie lebte und – fast 25 Jahre lang – am Kreiskrankenhaus arbeitete. Dass er sich für ein Medizin- statt Malereistudium entschieden hatte, ermöglichte ihm eine freie Hinwendung zur Kunst, unabhängig vom Verkaufszwang und dem Diktat des sozialistischen Realismus. Dennoch vermisste er die Freiheiten des Westen, zumal er als Grenzgänger im geteilten Deutschland dauerhaft im Visier der Staatssicherheit blieb.
Nachdem Dietmar Wappler 1985 einen Ausreiseantrag in die BRD gestellt hatte, folgten Reiseverbote und eine lange, vergebliche Wartezeit auf gepackten Koffern. Hausrat und Möbel (wie der erwähnte schwarze Sessel) wurden verschenkt. Wappler wurde als Oberarzt abgesetzt, seine Töchter nicht mehr zum Abitur zugelassen. Zermürbt vom politischen Stillstand und alltäglichen Repressalien, flüchtet er über die Warschauer Botschaft in die BRD mit der Option auf spätere Familienzusammenführung.
Nach dem Mauerfall ermutigten ihn die politischen Veränderungen zum Neubeginn mit eigener Praxis in der Altstadt von Bautzen. Bürgerliches Engagement war jetzt gefragt und so setzte er sich besonders für die Kultur ein: im Bautzener Kunstverein, im Rotary Club, in der Gregorius-Mättig-Stiftung und für lebendige Städtepartnerschaften wie mit dem aus Studentenzeiten vertrauten Heidelberg und mit Worms (wo er u.a. eigene Bilder ausstellte).
Die politische Aufbruchstimmung nicht nur im vereinten Deutschland, sondern auch in ganz Europa sieht man seiner Malerei an. Inspiriert von riesigen Bauplanen, die nach der Wende allerorts zur Sanierung die Gebäude verhüllen, sucht er nach neuen, ausdrucksstarken Maltechniken. So trägt er mit OP-Handschuhen gut haftendes Bitumen und bunte Acrylfarben auf Folienplanen auf, die transparent wie farbige Kirchenfenster scheinen, streut Glitzerpartikel darüber. „In der Kunst unübliche Materialien und Techniken sind durch kraftvolle Zeichen wuchtig verbunden. Die großen Formate benötigen den ganzen Körper, um bewältigt zu werden. Die gewagten Materialien sind Folie und Bitumen. Der Gebrauch dieser Materialien in der Kunst ist unkonventionell. Aber gerade das zeichnet eben auch Kunst aus, dass sie Neues entdeckt, dass sie experimentiert und eingeschliffene Pfade verlässt.“ – so beschreibt Heidi Stecker (Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig) seine Malerei in ihrer Laudatio. In der Ausstellung „Kunst auf Folie“ von Dietmar Wappler 2010 in Leipzig bezeichnet sie ihn nicht nur bezüglich seiner deutsch-deutschen Biografie, sondern vor allem auch künstlerisch als "Wanderer zwischen den Welten".
Wappler bewegte sich auch immer im Spannungsfeld zwischen Malerei und Medizin; beide ließen ihn Grenzerfahrungen erleben. Sein Beruf als Frauenarzt und Geburtshelfer führte ihm das gesamte Spektrum des Lebens vor Augen – von der Geburt bis zum Lebensende. Angesichts seiner eigenen schweren Krankheit setzte er sich verstärkt mit dem Tod auseinander, malte Kreuzigungen – wie jenes drei Meter hohe Kruzifix, das jährlich im Dom gezeigt wird. Dennoch entstanden lebensbejahende Folienbilder wie der "Thor", jener Kämpfer, der dem Schicksal seinen Hammer entgegenschleudert, oder der kraftstrotzende schwarz-rote "Stier", der im ehemaligen Kuhstall (jetzt "Kulturspeicher") im Zinzendorfschloss Berthelsdorf steht. In der dortigen Dauerausstellung sowie auch im Bautzner Atelier können Aquarelle, Grafiken, Öl-, Acryl- und Bitumenbilder Dietmar Wapplers besichtigt werden.

Der bequeme schwarze Ledersessel, der nach der Wende zurückgekehrt ist, lädt die Besucher ein zum Innehalten und zum Betrachten der Bildwerke. Zurückgekehrt ist auch jenes wiederentdeckte großformatige Leinwandgemälde, nachdem es in einem Bautzner Altstadtladen nun nach 50 Jahren wieder auf einen neuen Keilrahmen gespannt wurde, wie es sich für ein Ölbild gehört. Und weil es wegen seiner Größe in kein Auto passte, wurde das frisch gerahmte Bild mit den weißen Tauben kurzerhand zu Fuß zurückgetragen. Der ungewöhnliche Transport quer durch die Stadt, der fast wie eine Prozession anmutete, führte unweigerlich an Lebensstationen wie seiner Praxis vorbei, auf der Friedensbrücke entlang und über die Spree hinweg.
Ein Leben lang hatte Dietmar Wappler neue Wege in der Malerei beschritten, nach neuem Material und neuen Formen gesucht. Und nach der Schönheit in der Kunst; bei sich selbst, bei den Urvätern der Malerei wie die Cranach-Familie (zu deren Nachfahren er gehörte) oder bei Zeitgenossen wie Gerhard Richter (dem er 2010 persönlich begegnete). Für Wappler, dessen Bilder manchem zu wenig gefällig und zu unbequem waren, bestand die wahre Größe in der Kunst darin, authentisch zu bleiben.
Text: Astrid Wappler, Kunsthistorikerin Leipzig, Tochter des Künstlers und Kuratorin seiner Ausstellungen